Geissmann, T. 1996: Einsichten
in der Affensystematik. UniZürich (Magazin der Universität Zürich)
1996 (2): 71 (German text).

Einsichten in der Affensystematik
T. Geissmann
Anthropologisches Institut, Universität Zürich-Irchel
Nur wenige
Tiergruppen wurden und werden so intensiv "beforscht" wie die Menschenaffen.
Man sollte meinen, es existierte in der Systematik der Menschenaffen kein weisser
Fleck mehr, und es wäre heute nicht mehr möglich, neue, der Wissenschaft
bisher verborgen gebliebene Formen von Menschenaffen zu entdecken. Dem Autor dieses
Berichts ist genau dies gelungen. Doch die Zukunftsaussichten der von ihm erforschten
indochinesischen Schopfgibbons sind alles andere als rosig.
Gibbons sind kleine Menschenaffen, deren Verbreitung auf die tropischen Regenwälder
Ostasiens beschränkt ist. Sie sind hochspezialisiert. Rein baumlebend, erfolgt
ihre Fortbewegung mehr als bei allen anderen Primaten durch Hangeln. Die extreme
Verlängerung der Arme und Hände kann als Anpassung an diese spezielle Fortbewegungsart
interpretiert werden.
Gibbons leben in kleinen Familiengruppen. Diese bestehen aus jeweils einem erwachsenen
Paar und 1 bis 3 Nachkommen. Das erwachsene Paar bleibt vermutlich zeitlebens zusammen.
Junge Gibbons verlassen die Gruppe mit Erreichen der Geschlechtsreife (6 bis 8 Jahre).
Jedes Paar verteidigt sein Revier aktiv gegen Artgenossen. Die Territorien werden
wahrscheinlich ein Leben lang beibehalten.
"Gesang"
Der Anspruch auf ein Revier wird durch tägliche
Morgengesänge von etwa 10 bis 30 Minuten Dauer akustisch markiert. Oft singt
das Paar hierfür ein sogenanntes Duett. Dabei alternieren Männchen und
Weibchen ihre Rufe nach einem genau festgelegten Muster. Die Gesänge werden
oft von eindrucksvollem akrobatischem Herumtoben der Sänger begleitet.
Im Zoo ziehen besonders diese lauten Gesänge der Gibbons unweigerlich das lnteresse
der verblüfften Zoobesucher auf sich. Es ist naheliegend, dass sich auch die
Forschung diesem faszinierenden Phänomen ausführlich gewidmet hat. Trotzdem
ist die Funktion dieser Gesänge nur ansatzweise geklärt. Wahrscheinlich
erfüllen die Gesänge mehrere Funktionen, wie etwa Besitzanzeige des Reviers,
Abwehr von potentiellen Konkurrenten, Anlockung potentieller Partner oder Stärkung
der Paarbindung.
Alle Gibbonarten unterscheiden sich markant im Gesang. Die Verbreitung der Arten
im Freiland kann leicht anhand der Morgengesänge überprüft werden,
die man immerhin bis zu zwei Kilometer weit hören kann. Die Gesangsmerkmale
eignen sich hervorragend zur Rekonstruktion der Stammesgeschichte der Gibbons.
Unbekannte Art?
Die Gesänge haben zu den aufregendsten neueren
Entdeckungen in der Gibbonbiologie geführt. Archivierte Tonaufnahmen eines Schopfgibbonweibchens
(Hylobates sp.) im Tierpark Berlin (siehe Bild) boten dem Schreibenden insofern
ein Rätsel, als die Gesänge dieses Tieres mit keiner der elf bisher bekannten
Gibbonarten übereinstimmten. Die Herkunft des Tieres war zwar bekannt (Nordost-Vietnam).
Trotzdem war es schwierig, aufgrund einer Einzelbeobachtung diesen aberranten Gesang
zu erklären. Die Möglichkeit war aber zumindest gegeben, dass man es vielleicht
mit einer bisher unerkannten Gibbonart zu tun hatte.
Das Gibbonweibchen "Patzi"
gelangte 1962 als etwa einjähriges Jungtier aus Nordost-Vietnam in den Tierpark
Berlin. Dort verstarb sie 1986 als einziges bisher bekanntes Individuum einer noch
zu benennenden Unterart (Foto: K. D. Rudloff).
Erst kürzlich gelang es dem Schreibenden, denselben Gesangstyp im Freiland auf
der südchinesischen Insel Hainan wiederzufinden. Diese gesangliche Eigenständigkeit
der Gibbons von Nordost-Vietnam und Hainan sowie erste Daten aus einer vergleichenden
Untersuchung sämtlicher Museumsexemplare aus lndochina zeigen, dass wir es wahrscheinlich
mit einer bisher unerkannten Gibbon-Art zu tun haben. Sie kommt in zwei Unterarten
auf dem Festland in Nordost-Vietnam vor sowie in einer weiteren Unterart auf der
Insel Hainan. Es ist allerdings nicht sicher, ob von den beiden Festlandformen noch
Tiere überlebt haben. Die letzten Museumstiere wurden 1965 erlegt. Seither gibt
es aus Notdost-Vietnam keine gesicherten Gibbonbeobachtungen mehr. Der Autor führte
1993 selber eine Bestandsaufnahme der dritten Unterart auf Hainan durch: Diese ergab,
dass zur Zeit weniger als 20 Gibbons in einem einzigen Waldgebiet überlebt haben.
Wenn man bedenkt, dass es sich hier möglicherweise um die letzte Unterart der
seltensten Affenart überhaupt zu handeln scheint, kommt dem Schutz dieser Population
eine gänzlich neue Wichtigkeit zu.
Obwohl Indochina historisch fast vollständig bewaldet war, hat Vietnam heute
über 80 Prozent und Hainan über 90 Prozent seiner einstigen Waldfläche
verloren. Von den restlichen Waldrelikten ist mir noch ein geringer Teil in seinem
ursprünglichen Zustand. Das Überleben der Gibbons hängt aber direkt
von der Erhaltung dieser Wälder ab.

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