Geissmann, T. (1984). Funktion der gesanglichen Lautäusserungen des Siamangs (Hylobates syndactylus, Raffles, 1821). Diploma thesis, Anthropological Institute, Zürich University, Switzerland. 133 pp. (German text).

Funktion der gesanglichen Lautäusserungen des Siamangs (Hylobates syndactylus, Raffles, 1821)

Thomas Geissmann


Zusammenfassung:

Siamangs (Hylobates syndactylus) äussern komplizierte Duettgesänge, für die bereits verschiedene funktionelle Interpretationen vorgeschlagen wurden. Obwohl Modelle vorliegen, die die evolutiven Bedingungen für das Phänomen des Duettierens hinreichend zu erklären vermögen, scheint nur eines davon potentiell dafür in Frage zu kommen, die enorme Komplexität des Siamang-Duettgesangs zu erklären, nämlich die Hypothese, dass der Duettgesang der Stärkung des Paarzusammenhaltes diene. Sie setzt nach dem von Wickler (1980) vorgeschlagenen Mechanismus eine Paarspezifität der Duette voraus, die durch gesangliche Abstimmung der Partner aufeinander zustande kommt. Bisherige Berichte über mehrere Vogel- und Primatenarten, bei denen sich das paarspezifische Duett erst nach einiger Zeit einstellt, sind nicht gegen ontogenetische Veränderungen der Gesangsmuster abgesichert und belegen deshalb einen partner-orientierten Lernaufwand nicht zweifelsfrei.

Basierend auf Beobachtungen und Tonaufnahmen an mehreren Siamanggruppen in Zoos werden in der vorliegenden Arbeit das Lautrepertoire und der Aufbau des Gesangs erwachsener Siamangs beschrieben. Anschliessend wird qualitativ und quantitativ der Duettgesang zweier in Gefangenschaft neugebildeter Siamang-Paare in verschiedenen Phasen der Neuverpaarung untersucht. Die wichtigsten Resultate sind:

1. Die untersuchten Duettgesänge der Siamangs zeigten während des Partner-Wechsels viele drastische Veränderungen.

2. Aber einige dieser Veränderungen sind auf individuelle Gesangseigenschaften des neuen Partners zurückzuführen, und bei einigen Veränderungen kann diese Möglichkeit zumindest nicht ausgeschlossen werden.

3. Von den hier definierten Duettvarianten traten 29% im einen Paar und 21% im anderen nur während der ersten Phase nach dem Partnerwechsel auf. Auch wenn angenommen wird, dass die mit dem Partneraustausch und der Ortsveränderung einhergehende erhöhte Erregung und Erregbarkeit der Tiere ebenfalls zum Auftreten von untypischen Duettsequenzen geführt habe, so scheint diese Beobachtung doch bereits darauf hinzuweisen, dass die neuen Paare ihr Duettverhalten aufeinander abstimmen mussten.

4. Tatsächlich verbleiben einige Veränderungen, die nur interpretiert werden können als ein Lernaufwand, mittels dessen ein Sänger sein Duettverhalten an dasjenige seines neuen Partners anpasst.

5. Als solche Veränderungen werden hier betrachtet:
- das häufigere Auslassen des Jauchzers am Ende der Duettsequenz bei einem der beiden
Männchen (Na) (Duettvariante D21).
- der schnellere Bellrhythmus eines der beiden Weibchen (Ga) zu Beginn der Duettsequenz (quantitativer Parameter 2).
- die erhöhte Häufigkeit des Lauttyps booms in den Zwischensequenzen beider Männchen (Na, Bh).

Da nach dem Partneraustausch dieser adulten Tiere, die schon vorher ein stabiles Gesangsmuster gezeigt hatten, neue paarspezifische Merkmale auftraten, von denen einige klar auf einen partner-orientierten Lernaufwand eines oder beider Individuen zurückzuführen sind, liegen für den Siamang die Voraussetzungen für die von Wickler (1980) vorgeschlagene Duettfunktion vor. Dies ist überdies die einzige der bisher vorgetragenen Duettfunktionen, die einen hohen Komplexitätsgrad von Duetten als adaptiv erklären würde.

Schon allein die Lautstärke des Siamang-Gesanges lässt annehmen, dass die Paarbindungs-Hypothese nach Wickler (1980) dessen Funktionen nicht vollumfänglich erfasst. Höchstwahrscheinlich erfüllt der Gesang weitere Funktionen im Bereich der Reviermarkierung und (eventuell) der Partner-Anlockung.

Viele Aspekte des Siamang-Gesangs sind jedoch noch ungeklärt. Eigentliche Belege für die Richtigkeit der Paarbindungs-Hypothese (z.B. Nachweis einer direkten Beziehung zwischen der Stärke des Paarzusammenhalts und der Qualität des Duettgesangs) stehen noch aus. Die in der vorliegenden Studie gefundenen Hinweise auf einen partner-orientierten Lernaufwand sind relativ gering an der Zahl, und die Daten beruhen vorläufg auf Beobachtungen an lediglich zwei neugebildeten Paaren in Gefangenschaft. Zudem hat Geissmann (unveröffentlichte Daten) eine Siamang-Dreiergruppe beschrieben, die Nachwuchs produzierte, obwohl die Gesangsentwicklung des Zuchtmännchens noch nicht abgeschlossen war und obwohl über 50% der Duettsequenzen des Trios unvollständig oder abgebrochen waren.

Die vorliegende Arbeit erbringt auch erste Hinweise dafür, dass benachbarte Siamang-Gruppen lernen können, ihre Duettsequenzen in komplexen, offensichtlich interaktiven Konzert-Sequenzen zusammenzufügen. Die Funktionen solchen Verhaltens sind unklar, aber die Erleichterung des Erkennens fremder Artgenossen könnte eine davon sein.



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