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6. Verhaltensökologie

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Sozialstruktur

Gibbons leben in monogamen Kleinfamilien, bestehend aus einem erwachsenen Elternpaar und 1-3 noch nicht erwachsenen Nachkommen. Die Paare bleiben viele Jahre zusammen. Kopulationen mit anderen Individuen als dem Paarpartner sind sehr selten. Erwachsene Tiere desselben Geschlechts vertragen sich selten. Nachkommen verlassen in der Regel bei Erreichen der Geschlechtsreife die Elterngruppe, um eine eigene Familie zu gründen, können aber auch über das Alter von 10 Jahren in der Natalgruppe verbleiben. Eine Verzögerte Abwanderung ist vermutlich besonders bei hohen Populationsdichten eine vorteilhafte Alternativstrategie (Brockelman et al. 1998).

Besonders bei monogamen Tierarten kommt es oft vor, dass sich der Vater aktiv an der Jungenaufzucht beteiligt. Beim Siamang trägt ab dem zweiten Lebensjahr oft der Vater das Jungtier (Chivers, 1974). Bei anderen Gibbonarten wurde dieses Verhalten jedoch nicht beobachtet.

Territorialität

Gibbongruppen leben in festen Territorien von etwa 20-40 ha Grösse, in denen sich ihre Futterbäume befinden und in denen sie bevorzugte Wanderrouten benutzen (Abbildung 6.1). Die Tiere verteidigen ihr Wohngebiet vehement gegen adulte, gleichgeschlechtliche Artgenossen. Aufgrund ihrer starken Bindung an ihr Territorium wandern Gibbons auch nach heftigsten Störungen nicht einfach ab (Schneider, 1905). Dies macht Gibbons besonders verletzlich für Habitatszerstörung.

Siamang (Symphalangus syndactylus): Reviergrösse und wichtigste Wanderrouten durch die Baumkronen 

Abbildung 6.1. Siamang (Symphalangus syndactylus): Reviergrösse (gelb) und wichtigste Wanderrouten durch die Baumkronen für die Gruppe RS2 in Ulu Sempam (malayische Halbinsel). Die Überlappung mit Revieren der Nachbargruppen RS1 und RS4 sind ebenfalls farblich hervorgehoben (nach Chivers, 1974, S. 37).

Gesänge

Gibbons "markieren" ihr Wohngebiet durch laute, lange Gesänge, die in der Regel 10 bis 20 Minuten dauern, je nach Art. Die Gesänge sind wahrscheinlich phylogenetisch von Männchen-loud calls herzuleiten, wie wir sie auch bei vielen rezenten Vertretern der Cercopithecoidea und anderen Hominoidea finden (Geissmann, 2000).

Die meisten Gibbonarten produzieren Duettgesänge (Abbildung 6.2), während derer Weibchen und Männchen jeweils unterschiedliche Strophen singen und nach festen Regeln koordinieren. Bei zwei Arten (Hylobates klossii und H. moloch) produzieren Männchen und Weibchen nur Sologesänge.

Verpaarte Siamangs (S. syndactylus) singen im Duett

Weisshandgibbon (H. lar): Männchen beim Sologesang

Abbildung 6.2. Links: Verpaarte Siamangs (S. syndactylus) singen im Duett. Siamangs haben grosse Kehlsäcke, die beim Gesang aufgeblasen werden. Ihre Funktion noch unklar ist, könnte aber der Verstärkung bestimmter Frequenzbereiche dienen. Die anderen Gibbonarten haben nur kleine oder gar keine Kehlsäcke. Rechts: Bei manchen Arten wie dem Weisshandgibbon (H. lar) singen verpaarte Männchen morgens vor den Duettgesängen oft zusätzliche lange Sologesänge (Fotos: T. Geissmann; Taman Safari Zoo, Java, Indonesien, und Kinderzoo Rapperswil bei Zürich, Schweiz).


Während Sologesänge vermutlich vor allem dem Verteidigen von Ressourcen (Territorium, Fruchtbäume, Partner) und eventuell der Partnersuche (mate attraction) dienen, dürften den Duettgesängen noch andere Funktionen zukommen. Vermutlich erfüllen dabei die geschlechtsspezifischen Komponenten unterschiedliche Funktionen. Bei einfachen Duetten (Gattungen Hylobates und Nomascus, siehe unten) sind partner-bewachende oder paar-anzeigende Funktionen wahrscheinlich, während bei komplexeren Duetten (Symphalangus, evtl. auch Hoolock?) auch paarbindende Funktionen involviert sein dürften (Geissmann, 1999; Geissmann & Orgeldinger, 2000).

Die Gesänge finden meist in den frühen Morgenstunden statt, zeigen aber oft art- und manchmal sogar geschlechtsspezifische Zeitpräferenzen. So erreicht der Weisshandgibbon in Malaysia seine grösste Rufaktivität morgens um 8-9 Uhr, der sympatrische Siamang dagegen etwa 2 Stunden später (Abbildung 6.3).

 Siamang (S. syndactylus) und Weisshandgibbon (H. lar): Verteilung der Gesänge

Abbildung 6.3. Siamang (S. syndactylus) und Weisshandgibbon (H. lar): Tägliche Verteilung der Gesänge in den Untersuchungsgebieten Ulu Sempam und Kuala Lompat (malayische Halbinsel), wo beide Arten sympatrisch vorkommen. Gelb: Lar-Duettgesänge; orange: Lar-Männchen-Sologesänge; blau: Siamang-Duettgesänge (nach Chivers, 1974, S. 254).

Die verschiedenen Gibbonarten lassen sich an ihren Gesängen erkennen (Abbildung 6.4). Da die artspezifischen Merkmale erblich sind, haben die Gesänge in der Systematik nicht nur zur Artidentifikation, sondern auch zur Rekonstruktion phylogenetischer Beziehungen eine wichtige Bedeutung erlangt (Geissmann, 1993, 2002a, 2002b).

Die Gesänge sind bei allen Arten, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt, geschlechtsdimorph. Ein besonders einfaches Duett produzieren zum Beispiel Gelbwangen-Schopfgibbons (N. gabriellae): Erwachsene Weibchen produzieren normalerweise nur eine einzige Strophenform, die als "great call" bezeichnet wird. Jeder great call besteht aus aufsteigenden Lauten, die mit beschleunigtem Tempo ausgestossen werden: Laute und Intervalle werden im Strophenverlauf verkürzt (Abbildung 6.4e). Mehr oder weniger ähnliche great call Strophen finden sich im Weibchengesang aller Gibbonarten. Erwachsene Männchen des Gelbwangen-Schopfgibbons singen ganz andere Strophen, bei denen zwei Typen unterschieden werden: (1) Reihen von rhyhthmischen hohen Kurzlauten (Staccato-Laute), und (2) Rufreihen mit starken Frequenzsprüngen (multi-modulierte Laute). Im Duettgesang werden die 2 Männchenstrophen alternierend geäussert. Von Zeit zu Zeit setzt das Weibchen mit einem great call ein. Zu Beginn einer Weibchenstrophe verstummt das Männchen und antwortet danach mit einer multi-modulierten Strophe, der sogenannten "coda". Die typische Abfolge eines Weibchen-great-calls und einer Antwortstrophe des Männchens ist in Abbildung 6.4e zu sehen.

Bei den Duettgesängen anderer Gibbonarten können wesentlich mehr vokale Interaktionsformen zum Einsatz kommen. Die komplexesten Säugetierduette kennt man vom Siamang (S. syndactylus) (Abbildung 6.4f).

 Sonagramme von typischen Gesangsausschnitten sechs verschiedener Gibbonarten

Abbildung 6.4. Sonagramme von typischen Gesangsausschnitten sechs verschiedener Gibbonarten: a.) H. lar; b.) H. pileatus; c.) H. klossii; d.) H. hoolock; e.) N. gabriellae; f.) S. syndactylus. Die vom Weibchen allein gesungenen Passagen sind jeweils blau unterstrichen, die vom Männchen allein gesungenen rot. Die Stellen, an denen Männchen und Weibchen gleichzeitig singen, sind lila gestrichelt gekennzeichnet.

Ernährung

Gibbons sind spezialisiert auf die Ernährung durch reife Früchte, die geklumpt, aber weit verstreut im Wald und - vor allem im Fall von Feigen - in sehr reichen Aggregaten vorkommen. Blätter und Insekten werden zur Ergänzung gefressen. Die Nahrungszusammensetzung kann starke saisonale und lokale Schwankungen aufweisen. Wo Siamangs und Weisshandgibbons sympatrisch vorkommen, kann der Siamang dank seiner Körpergrösse besser auf die energieärmeren Blätter ausweichen. Sein längerer Magen-Darmtrakt erlaubt eine bessere Verwertung der Nahrung. Entsprechend haben Siamangs kleinere Streifgebiete, unternehmen kürzere Tagesstreifzüge und verbringen mehr Zeit mit Fressen (Gittins & Raemaekers, 1980; Palombit, 1997).

Ein Tag im Leben der Gibbons

Der hier beschriebene Tagesablauf (Abbildung 6.5) basiert auf Daten einer mehrjährigen Studie an den Siamangs der malayischen Halbinsel (Chivers, 1974, 1977, S. 591).

1.Kurz nach 06:00 Uhr setzt die Dämmerung ein. Die Tiere räkeln sich und entleeren Darm und Blase. Wenn die Sonne aufgeht, besucht die Gruppe unter Führung des Weibchens verschiedene Fruchtbäume, um sich zu stärken.

2.Nachdem die Gruppe einige Zeit herumgewandert ist und gegessen hat, klettert sie zwischen 09:00 und 11:00 Uhr oft auf einen der grossen, das Blätterdach überragenden Bäume, um sich auszuruhen, das Revier zu überblicken und gelegentlich einen Duettgesang als Antwort auf eine Nachbargruppe anzustimmen.
Wenn aus den umliegenden Territorien eine Nachbargruppe ruft, wartet die Fokusgruppe oft einige Minuten und hört zu, bevor sie mit einem lauten Duettgesang antwortet. Auch die Jungtiere können sich an dem Konzert beteiligen. Der typische Siamanggesang dauert etwa 17 Minuten. Danach können auch andere Gruppen den Gesang fortsetzen. Nach dem Gesang entspannen sich die Tiere während einer halben Stunde bei gegenseitiger Fellpflege (Grooming).

3.Das Weibchen fährt fort, die Gruppe in dem kleinen Territorium herumzuführen. Nur selten begegnet man dabei an der Territoriumsgrenze einer der Nachbargruppen. In diesem Fall hält sich das Weibchen mit den Jungtieren im Hintergrund, während die Nachbar-Männchen - manchmal begelitet von einem subadulten Sohn - einander anstarren und androhen, gelegentlich unterbrochen von Imponier-Hangeln und kurzen Jagden über die Grenzlinie. Solch ritualisierte Begegnungen dauern etwa 15-60 Minuten.

4. Die Gruppe hält eine kurze Siesta.

5.Die Gruppe setzt ihre kurzen Wanderungen durch das Revier wieder fort und besucht mehrere Futterbäume, wo jedes Mal eine lange Fresspause eingeschaltet wird.

6.Am frühen Nachmittag, während der grössten Hitze des Tages, geht die Aktivität der Gruppe zurück. Die Familie ruht und entspannt sich eine Stunde lang bei gegenseitiger Fellpflege. Falls die Gruppe sich schon sattgefressen hat, oder wenn heftige Regenfälle einsetzen, begibt sich die Gruppe anschliessend zu einem ihrer grossen Schlafbäume. Es ist vor 16:00, etwa 2 Stunden vor Sonnenuntergang. Gelegentlich besucht die Gruppe auch noch einen letzten Futterbaum vor Bezug des Schlafbaums.
Die Gruppemitglieder nehmen normalerweise gegen 17:00 Uhr, an sehr aktiven Tagen manchmal auch nach 18:00 Uhr, ihre Schlafposition ein. Das jüngste Tier schläft am Bauch der Mutter, das zweitjüngste oft in der Umarmung des Vaters. Subadulte Jungtiere halten etwas Distanz und schlafen oft in einem separaten Baum.

 Typischer Tagesablauf einer Gibbonfamilie am Beispiel des Siamangs (S. syndactylus)

Abbildung 6.5. Typischer Tagesablauf einer Gibbonfamilie am Beispiel des Siamangs (S. syndactylus). Zahlen siehe Text.

Andere Gibbonarten wie der sympatrische Weisshandgibbon zeigen einen ähnlichen Tagesablauf. Beide verbringen Arten relativ viel Zeit mit Essen, nämlich etwa 40-50% (Abbildung 6.6). Der Grund könnte darin liegen, dass ihre Nahrung weit verstreut vorkommt, energiearm ist oder beides zuammen.

 Durchschnittliche Tagesaktivität beim Siamang und beim Weisshandgibbon

Abbildung 6.6. Durchschnittliche Tagesaktivität beim Siamang (S. syndactylus) und beim Weisshandgibbon (H. lar) in Kuala Lompat (malayische Halbinsel) (nach MacKinnon & MacKinnon, 1980, S. 185).

Es lassen sich aber auch Unterschiede erkennen: So verwendet der Siamang mehr Zeit für die Nahrungsaufnahme, während der Weisshandgibbon mehr Zeit in die Nahrungssuche (Lokomotion) investiert. Da der Weisshandgibbon etwas mehr Früchte und weniger Blätter frisst als der Siamang, muss er mehr herumziehen, um die Früchte zu finden, während der Siamang mehr Nahrung aufnehmen muss, um den gleichen Energiebedarf zu decken.

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